Die DEFA-Brötchen
Das Ritual der Auswahl in der DDR war eine Tradition zumal es unmöglich war zu erreichen, dass uns die Kopien der zur Auswahl stehenden Filme zugestellt wurden. Mit einem Telex versehen - Fax und Email gab es damals noch nicht - fanden wir uns zur festgesetzten Zeit am Bahnhof Friedrichstraße ein um auf der anderen Seite in Empfang genommen und zu den Büros des DEFA-Außenhandels gefahren zu werden. Es folgte ein Tag von Filmvorführungen, die mittags durch das Eintreffen und den Verzehr von belegten Brötchen unterbrochen wurden. Am Ende erwartete man dann unsere Entscheidung. Einmal entstand am Bahnhof Friedrichstraße eine tragikomische Situation: einer unserer Mitglieder, Dr. Rudolf Goldschmidt, hatte seinen Pass vergessen. Er zeigte seinen offiziellen Ausweis “Opfer des Nationalsozialismus” als Beweis, dass er unter dem vorangegangenen Regime Verfolgung erlitten hatte. Wir haben lange mit dem diensthabenden Grenzoffizier argumentiert, zeigten vor allem unser völliges Unverständnis dafür, dass man einen anerkannten Anti-Faschisten nicht in ein Land einreisen ließ, das von sich behauptete, “gegen Imperialismus und Faschismus” zu sein. Aber es war nichts zu machen, unser Freund musste wieder umkehren.

Die Mauer und auch die Geheimnisse um manche Dreharbeiten in der DDR verhinderten nicht, dass gewisse Informationen zu uns durchdrangen. Wir wussten in etwa, was uns erwartete, bevor die Vorführungen bei der DEFA begannen. Alles war vorbereitet, um uns den Eindruck einer freien Auswahl zu geben. Tatsache war jedoch, dass sich unsere Auswahl auf die vorgeschlagenen Filme beschränken musste, und wir hatten lediglich die Möglichkeit, diese nicht auszuwählen. Wenn wir den Missgriff begingen, nach einem Film zu fragen, der nicht auf der Liste stand, erklärte man, dieser sei “leider noch nicht fertig”, was meistens bedeutete, dass er noch nicht von höheren Instanzen freigeben war. Es war unmöglich, einen “nicht fertigen” Film im Studio oder am Schneidetisch zu sichten, wie es ebenfalls aus Höflichkeitsgründen unmöglich war, die Vorführung eines Films abzubrechen, auch wenn wir schon längst wussten, dass er für uns nicht in Frage kam. Im übrigen ahnten die verantwortlichen Funktionäre, in welche Richtung unsere Auswahl innerhalb des zusammengestellten Pakets gehen würde und zögerten nicht, uns schon vorher zu konditionieren und die Vorzüge dieses oder jenes Films zu preisen. Etwas Schutz bot die Gewissheit, dass sich die DDR im Westen gut darstellen wollte und deshalb genau wusste, dass sie uns das Beste anbieten müsse. Die Lektion von 1981 trug auch ihre Früchte.

Das Ritual der DDR-Filmauswahl erinnerte etwas an die Commedia dell’arte, in der jede Seite eine Rolle spielt und genau Szenario und Rolle des anderen kennt.

Leider haben wir es nie geschafft, von der DDR einen Film als Welturaufführung zu erhalten, wie es bei anderen Ländern Gang und Gebe war. Jedesmal, wenn ein Film für den Wettbewerb ausgewählt war, veranstaltete die DDR kurz vor den Filmfestspielen die Welturaufführung im Kino International  in Ost-Berlin, was zur Folge hatte, dass Kritiker aus West-Berlin den Film schon vorher gesehen hatten.

Die Auswahl eines Films ist - wie jede Entscheidung im Leben schlechthin - immer auch politisch. Ein Filmfestival ist keinen Box Office-Zwängen unterworfen sondern muss, das habe ich immer wieder betont, sich dem Publikum gegenüber verantwortlich zeigen, zur Entdeckung neuer Talente führen, möglicherweise den Geschmack beeinflussen und seine Kenntnisse erweitern. Das verneint weder Kunst noch Unterhaltung, noch heißt es den Erzieher spielen, aber es bedeutet, dass man ein in seiner Vielfalt intelligentes Programm anbieten muss. In Berlin entwickelte sich das Festival außerdem in einem überaus politischen Kontext, wo der Dialog zwischen zwei Gesellschaftsformen Priorität hatte, und man musste sensibel vorgehen und der gegebenen Wirklichkeit Rechnung tragen. Ich habe nie, das muss ich betonen, von der Regierung in Bonn oder dem Berliner Senat irgendwelche Anweisungen erhalten außer dem Wunsch, ich möge alles tun um diesen Dialog zu fördern. Durch die Deer Hunter-Affäre hatte ich außerdem gelernt, dass je weniger die politischen Instanzen in Filmauswahl, Programmgestaltung oder Pläne des Festivals einbezogen wurden, eine desto größere Möglichkeit bestand, erfolgreich auf diesem Minenfeld zu manövrieren. Während dieser ganzen Zeit kannte nur ein sehr kleiner Personenkreis innerhalb der Festivalorganisation die vielerlei Verhandlungen im Osten. Diskretion war absolut angesagt.

Offiziell war zwar die HV-Film dafür zuständig, für die anderen sozialistischen Länder alljährlich den Bericht über die Filmfestspiele zu erstellen, aber das letzte Wort hatte Moskau, wie mehrmals bewiesen wurde. Einen Film - selbst wenn der Autor der bekannte Apartheid-Gegner Athol Fugard war wie im Fall von Marigolds in August (Ringelblumen im August) von Ross Devenish,1980 - aus einem Produktionsland “Südafrika” vorzustellen oder in die Ernst Lubitsch-Retrospektive den Film Ninotschka (1938) offiziell einzubeziehen, hätte unweigerlich zu einem Boykott geführt. Ganz zu schweigen von einigen Filmen von Billy Wilder. Wir wissen inzwischen dass Goskino, die oberste Instanz des sowjetischen Filmwesens, dem sowjetischen Außenministerium alles zur Genehmigung vorlegen musste, das West-Berlin betraf. Bei jedem Filmfestival in Moskau begann das Theater der Fahne der "selbständigen politischen Einheit Westberlin" und der den "Delegationen" zugeteilten Tische im Restaurant des Hotels Rossia. Für uns war es der reinste Zirkus: wir sollten uns nicht an den Tisch der Bundesrepublik setzen, wollten nicht an den "Berliner", und so nahmen wir dann meistens Zuflucht bei den Schweizern...Zum Glück gab es dieses Problem nicht auf dem Filmfestival in Karlovy Vary.
Der Ballon
Die Beziehungen zum amerikanischen Kino waren in jener Zeit nicht einfacher. Ich musste erst nach Washington reisen, wurde dort sicherlich diskret von der CIA getestet, bevor ich erreichte, dass James Stewart 1982 im Auftrag von Präsident Ronald Reagan zu den Filmfestspielen kam und sich die Situation etwas entspannte. Das hat Buena Vista allerdings nicht daran gehindert, den Filmfestspielen nach entsprechender Presseankündigung als Eröffnungsfilm Night Crossing (Mit dem Wind nach Westen) von Delbert Mann anzubieten, die Geschichte einer Flucht aus der DDR mit Hilfe eines Heißluftballons. Wenn ich dieses Angebot angenommen hätte, wäre der Rückzug aller sozialistischen Länder sicher gewesen, und wenn ich abgelehnt hätte - was ich getan habe -, würde man Zensur anprangern, was Axel Springer auch nicht verfehlte. Nicht bekannt ist jedoch, dass ich die diskrete aber entscheidende Unterstützung der amerikanischen Behörden in Berlin hatte, um eine Konfrontation zu vermeiden, obendrein mit einem derart schwachen Film. Man muss also verstehen, wie wichtig die Teilnahme der DDR war und dass weit mehr auf dem Spiel stand als die direkten Beziehungen.

Außer 1981 war die Teilnahme der DDR an den Filmfestspielen immer von Bedeutung. Schon 1982 würdigte das Kinderfilmfest 20 Jahre Kinderfilmproduktion der DEFA, während im Wettbewerb Bürgschaft für ein Jahr von Hermann Zschoche gezeigt wurde und Katrin Sass einen Bären als beste Schauspielerin erhielt.
1983 hätte das Jahr von Frank Beyers Der Aufenthalt sein sollen, aber der Film wurde in letzter Minute auf Druck der polnischen Regierung zurückgezogen. Ich war damals schon zu Beginn der Verhandlungen diskret informiert worden, aber wir hatten auf Bitte der DDR hin vereinbart, diese Information vertraulich zu behandeln, was der Presse die Tür zu allen Spekulationen öffnete. Wolfgang Jacobsen hat dann in seiner Geschichte 50 Jahre Berlinale im Jahr 2000 die Einzelheiten dieser leidigen Affäre aufgezeichnet, wobei dem Festival nichts anderes übrig blieb als sich den Entscheidungen zu fügen und diskret zu bleiben.

Ab 1984 wurde die Beteiligung der DDR immer wichtiger. Damals war die DDR mit zwei Filmen im Wettbewerb vertreten, was sich 1986 wiederholte, und 1989 waren es drei Filme. Filme aus der DDR liefen ebenfalls im Panorama, auf dem Kinderfilmfest, als Kurzfilme im Wettbewerb und manchmal in einer der Retrospektiven, während auch regelmäßig immer interessante Filme im Internationalen Forum des Jungen Films gezeigt wurden, das von meinem Kollegen Ulrich Gregor geleitet und in Eigenregie organisiert wurde.

Die Schweizer Fahne
1985 kam dann ein Höhepunkt mit der Verleihung des Goldenen Bären an Rainer Simon für seinen Film Die Frau und der Fremde. Der französische Schauspieler Jean Marais war Vorsitzender der Jury, der unter anderen Wolfgang Kohlhaase und Istvan Szabo angehörten. In jenem Jahr besuchte auch der Chef des Filmwesens der DDR, Hors Pehnert, zum ersten Mal offiziell das Festival, und sein Besuch bekam durch eine etwas komische Situation einen pikanten Beigeschmack: es war vereinbart worden, dass er dem Senator für kulturelle Angelegenheiten, Dr. Volker Hassemer, die Delegation der DDR in meinem Büro vorstellen sollte, aber unter Ausschluss der Presse. Zu besagter Stunde erschien dann Hassemer in Begleitung eines Fernsehteams, was sofort Pehnerts Protest auslöste, der drauf und dran war, das Treffen platzen zu lassen. Ich musste schnell diese Situation retten, was keineswegs einfach war, da Hassemer als Kultursenator auch für die Filmfestspiele zuständig war. In einer Ecke meines Büros hatte ich seit längerem eine kleine Schweizer Fahne, wie man sie Kindern zum Nationalfeiertag in die Hand gibt. Ich habe also improvisiert und erklärt, mein Büro sei extra-territorial und Schweizer Boden, deshalb neutral und ich könne die Presse nicht hineinlassen. Hassemer machte gute Miene zum bösen Spiel, und so konnte dieses höchst protokollarische Treffen stattfinden.
Natürlich war dieses Improvisieren überhaupt nicht rechtmäßig oder gerechtfertigt, und ich fürchte dass man mir, hätte der Schweizer Generalkonsul davon erfahren, eine gründliche Standpauke gehalten hätte.

Zwischen 1975, als die DDR zum ersten Mal mit Jakob der Lügner von Frank Beyer an den Filmfestspielen teilnahm und 1990, erhielten die Filme der DDR insgesamt sechs Bären und zahlreiche weitere Preise. Das ist beachtlich wenn man die starke Konkurrenz der anderen teilnehmenden Länder bedenkt.

Aber bald stellte sich auch ein anderes Problem, nämlich die Teilnahme von DDR-Filmschaffenden an den Filmfestspielen. Ein Festival erschöpft sich nicht in Filmvorführungen sondern ist ein Treffpunkt von verschiedensten Fachleuten. Es war klar, dass die HV-Film die Taktik der Kollegen des Forums nicht besonders schätzte, die darin bestand, einzelne Filmschaffende privat einzuladen. Letztere mussten dann eine Genehmigung für ein Ausreisevisum einholen, was gelegentlich verweigert wurde. Andererseits war es auch unnötig, eine Vogel-Strauß-Politik zu machen, denn wer sich jenseits der Mauer für das Festival interessierte konnte es ausgiebig in westlichen Fernsehsendungen verfolgen, was den Frust nur noch erhöhte.

Die DDR auf den Int. Filmfestspielen Berlin (Fortsetzung)
Checkpoint Charlie um 1980
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