Zu teure Hotels
Horst Pehnert war sich natürlich dieser Situation bewusst, argumentierte aber, die Hotels müssten in Devisen bezahlt werden und das sei zu teuer. Auch unser Festivalbudget hatte seine Grenzen. Ich schlug deshalb vor, die Ausreisevisa so zu regeln, dass jeder jeweils abends nach Ost-Berlin zurückkehren könne. Er fand die Idee interessant, bestand aber darauf, dass die DDR entschied, wer die Genehmigung erhielt, wenn das Festival die Akkreditierung garantierte. Die Berlinale konnte ihrerseits aber auch Vorschläge machen. Wir wussten natürlich, dass diese Lösung auch der Anwesenheit von SED-Funktionären oder anderen Parasiten des Systems die Tür öffnen konnte, aber dieses Risiko lohnte sich, zumal die HV-Film uns zusicherte, nur Filmschaffende, Journalisten und Techniker zu benennen, die nach den gleichen Kriterien akkreditiert wurden wie unsere westlichen Teilnehmer. Von da an stieg die Zahl der akkreditierten Filmschaffenden aus der DDR ständig, im Februar 1989 waren es mehr als 100.
Im Februar 1989 hatte ich die Freude, Horst Pehnert eine Berlinale-Kamera zu überreichen als Anerkennung seines Wirkens bei der Annäherung zwischen der DDR und den Filmfestspielen. Diese Entscheidung führte zu einiger Polemik hinter den Kulissen, denn Pehnert bestimmte als Leiter des DDR-Filmwesens das Schicksal manch eines Projektes und das seiner kreativen Autoren,  wobei er als stellvertretender Minister für Kultur zwischen zwei Stühlen saß, dem Zentralkomitee der Partei auf der einen und den Filmkünstlern auf der anderen Seite. Außerdem gehörte es in westlichen konservativen Kreisen zum guten Ton, alles was irgendwie mit den Strukturen dieses “anderen” Staates zu tun hatte, den man abschaffen wollte, mit dem Bann zu belegen. Ich glaube, dass seine positive Rolle heute bei Filmschaffenden der ehemaligen DDR mehr Anerkennung findet als damals, auch wenn einige noch einen gewissen Groll hegen. Ich möchte auch noch die positive Rolle von Eberhard Ugowski hervorheben, dem Stellvertreter von Horst Pehnert, der verantwortlich war für internationale Beziehungen.
Glasnost an der Berliner Mauer
In der Zwischenzeit waren Glasnost und Perestroika in der UdSSR in vollem Gang. 1988 verlieh ich eine Berlinale-Kamera gemeinsam an Jack Valenti und Elem Klimov, den Präsidenten der mächtigen amerikanischen MPA und den Generalsekretär des Verbandes der Filmschaffenden der UdSSR. Klimov war am Tag nach Ende der Filmfestspiele noch in Berlin, und ich lud ihn zum Mittagessen nach Lübars ein, einem kleinen Dorf weit außerhalb der Stadt und kurz vor der Grenze. Nicht wenig erstaunt war ich, als Klimov mich gegen Ende unseres Essens fragte, ob ich ihm die Mauer zeigen könne. So habe ich diesen bedeutenden sowjetischen Regisseur auf Feldwegen begleitet, um die Mauer, die Lübars umgab, vom Westen aus zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Seine Reaktion war absolut negativ gegenüber dieser ungeheuerlichen Absurdität. Das war für mich ein erstes Zeichen, dass sich früher oder später etwas ändern würde.

Dann kam in demselben Jahr das Leipziger Dokumentarfilmfestival. Ich war allein mit meiner Frau Erika, die all die Jahre hindurch eine Art graue Eminenz bei allen Verhandlungen war, im Büro der Präsidentin, Annelie Thorndike.
Nach den üblichen höflichen Begrüßungsworten kam das Gespräch sehr bald auf aktuelle politische Themen. Sie sagte einfach: “Die DDR ist am Ende.” Wir waren schockiert und fragten warum. Sie sagte uns dann, dass ein Onkel von ihr Lokomotivführer sei und ihr erzählt habe, dass sich Hunderte von Güterwaggons an der polnischen Grenze häuften ohne weiterfahren zu können und dass die Wirtschaft der DDR ein Debakel sei. Wir waren etwas erstaunt über diese ungewohnte Offenheit im Gegensatz zu den sonst eher steifen Floskeln bei solchen Gelegenheiten und fragten sie, welche Lösung sie sehe: ihre Antwort rührte uns wie ein Schlag: “die Wiedervereinigung”. Und das nachdem Horst Pehnert uns gerade vor wenigen Tagen mit fester Stimme versichert hatte, die DDR habe schon seit langem ihre Perestroika gehabt...
Auf dem Weg zum Kosmos
Schon länger trug ich mich mit dem Gedanken, ob man nicht die Filme der Berlinale auf der anderen Seite der Mauer zeigen könne, gewissermaßen eine Ergänzungslösung zum Akkreditierungsverfahren. Ich erwähnte dies erneut Anfang Februar 1989 Horst Pehnert gegenüber. Er war zunächst sehr skeptisch, dann schien ihm die Idee aber doch zu gefallen, er meinte jedoch, dass die Filme vorher seitens der DDR besichtigt werden müssten. Das war wiederum für uns inakzeptabel, entweder alles oder nichts. Aber die Idee kam doch langsam voran, und im Laufe der nächsten Monate gewann sie an Form. Wir erreichten ein grundsätzliches Einverständnis, aber ulkigerweise waren es nicht die westlichen Filme, die ein uneingestandenes Problem darstellten, sondern die sowjetischen Glasnost-Filme. Einige dieser Filme waren sogar in der DDR “verboten”.

Es versteht sich von selbst, dass alle diese Gespräche streng vertraulich stattfanden und kein Beamter oder Senator in West-Berlin darüber informiert wurde. Wir hatten verstanden dass, je diskreter wir die Sache behandelten, desto mehr Chancen zum Gelingen gegeben waren. Andere Gespräche folgten, und schließlich schrieb ich am 9. November an die HV-Film den viel zitierten Brief mit einem offiziellen Vorschlag für das Festival 1990. Diesen Brief sollte ich am 10. November 1989 einem Mitarbeiter von Horst Pehnert übergeben, und zwar auf der anderen Seite des Checkpoint Charlie, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Zum vereinbarten Termin fand ich mich also am Grenzübergang ein, um auf der anderen Seite dieses Angebot einer Zusammenarbeit von Ost und West zu überreichen. Natürlich wartete unter den damaligen Umständen niemand auf der anderen Seite.
Ich musste also wieder umkehren, blieb aber wohl der einzige, der an jenem historischen Tag in die andere Richtung durch die Mauer ging, wie noch die beiden Stempel der Grenzpolizei in meinem vergilbten Pass belegen. Ende November gab uns dann der damalige Kulturminister der DDR, Dr. Dietmar Keller, in einem Gespräch auf dem Leipziger Festival seine Zustimmung.

Anfang Dezember erfuhren wir, dass ein Treffen zwischen dem Kulturminister der DDR und Anke Martiny, der damaligen Senatorin für Kultur bevorstand. Wir haben dann kurz vorher im Einvernehmen mit der HV-Film eine Pressemitteilung über unsere bevorstehende Zusammenarbeit herausgegeben. Ich hatte den Regierenden Bürgermeister, Walter Momper, schon vorher bei einer zufälligen Begegnung auf dem Flughafen in Frankfurt kurz über unser Vorhaben informiert. Anke Martinys Reaktion war verblüffend: “Herr de Hadeln, das geht doch nicht: wir überlegen und Sie handeln!” So war es seinerzeit um die schläfrige Bürokratie bestellt. Wir haben sie bei  ihren Überlegungen gelassen und sind unseren Weg vorangegangen. Im Januar 1990 war dann das Übereinkommen nach vielen Verhandlungen in allen Einzelheiten festgelegt. Zu regeln war noch das Problem des Grenzübergangs für die Gäste des Festivals.  Horst Pehnert hat beim Kommandanten der Grenzpolizei erreicht, dass am Übergang Invalidenstraße der Akkreditierungsausweis der Filmfestspiele als offizielles Dokument anerkannt wurde und Ein- und Ausreise ermöglichte. Am Ende waren es nicht nur die Filme des Wettbewerbs, sondern das gesamte Programm wurde praktisch auf beiden Seiten der Mauer gezeigt. Der Wettbewerb im Kosmos, das Kinderfilmfest und Teile des Panoramas im Colosseum und das Internationale Forum im International.
Grünes Licht und T-Shirts
Am Eröffnungsabend setzte sich also ein langer Zug schwarzer Limousinen, voran die Kultursenatorin, Richtung Grenzübergang in Bewegung. Auf der anderen Seite wartete eine Eskorte der Volkspolizei, die alle Ampeln vor uns auf grün schaltete. Vor dem Kosmos war ein langer roter Teppich ausgerollt den man, wie wir später erfuhren, vom Flughafen Schönefeld geholt hatte, wo er bei offiziellen Reisen von Honecker seinen Zwecken gedient hatte. Nach zwei Ansprachen, von Horst Pehnert und der Kultursenatorin, wurde gleichzeitig im Westen im Zoo-Palast und im Kosmos der amerikanische Film Steel Magnolias (Magnolien aus Stahl) von Herbert Ross aufgeführt, sicherlich nicht die beste Wahl. Draußen wurden mehrere Autoreifen mit Messern aufgeschlitzt, ein Zeichen dafür, dass die DDR-Version der Filmfestspiele nicht nach aller Geschmack war.
Diese Filmfestspiele stellten eine nie dagewesene Attraktion für die Medien dar, aber für uns brachten sie große logistische Probleme mit sich, und wir waren unzulänglich auf dieses Mehr an allerlei Komplikationen vorbereitet. Zum Glück herrschte beiderseits guter Wille, was allgemein zu guter Stimmung verhalf. Nach damaligen Statistiken kamen mehr als 38 000 Zuschauer aus der DDR zu den Vorführungen. Diese erste Ausgabe endete mit einem grandiosen Büffet im Roten Rathaus, das bald zum Sitz des Regierenden Bürgermeisters einer vereinten Stadt werden sollte. Am Tag nach dem Abschluss fuhr ich mit einem meiner Mitarbeiter zum Grenzübergang Invalidenstraße, und wir brachten den Grenzposten als Dank ein Paket T-Shirts des Festivals.

Berlinale 1985: v. l. n. r. Peter Ulbrich, Horst Pehnert, Dr. Volker Hassemer, Moritz de Hadeln, Dr. Ulrich Eckhardt, Ronald Trisch (Foto: Erika Rabau)
Leipzig 1989: Eberhard Ugowski, Dr. Dietmar Keller, Ruth Pehnert, Horst Pehnert, Moritz de Hadeln, Erika de Hadeln (Photo: Münch-Kempe-Sperber-Podszuweit)
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Die DDR auf den Int. Filmfestspielen Berlin (Fortsetzung)