Erinnerungen an andere Zeiten
Als Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin - in der DDR als “Westberliner Festival” bezeichnet - von 1980 bis 2001, waren meine direkten Ansprechpartner bis 1990 die Hauptverwaltung Film (nachfolgend “HV-Film”) im Ministerium für Kultur und der DEFA Außenhandel. Auch wenn der Progress-Filmverleih seit 1950 bestand, war ich mir dessen kaum bewusst, denn seine Rolle beschränkte sich hinter den Kulissen wohl darauf, die Kopien der ausgewählten Filme zu liefern. Damals war es unmöglich, Filme außerhalb der offiziellen Strukturen zu sichten und noch weniger, sie durch ihre Regisseure zu bekommen oder Produzenten und Verleiher, wie es jetzt meistens der Fall ist. Heute verwaltet Progress-Film einen wahren Tresor, dessen Filme nicht nur Zeugen einer Epoche sind, sondern auch des großen schöpferischen Talents der Filmschaffenden in der ehemaligen DDR. Wolfgang Jacobsen hat in seinem Buch 50 Jahre Berlinale (Verlag Nicolai, Berlin 2000) in Einzelheiten Jahr für Jahr die wesentlichen Ereignisse der Beziehung zwischen der DDR und den Filmfestspielen aufgezeichnet, sodass ich mich hier auf Erinnerungen und persönliche Gedanken beschränken möchte.
Der nachfolgende Text wurde in einer leicht gekürzten Fassung von Progress-Film anlässlich der 60. Internationalen Filmfestspiele in dem Buch Zwischen uns die Mauer - DEFA-Filme auf der Berlinale veröffentlicht. Dies ist die komplette Originalfassung.
Mein Gepäck
Ich bin 1979 nicht als Grünschnabel in Berlin angekommen, sondern besaß schon eine solide Erfahrung mit den oft komplexen Beziehungen zu den sozialistischen Ländern. Ich war bereits zwischen 1965 und 1968, als ich dort heiratete, in Berlin gewesen und hatte Geschmack gefunden an den häufigen Theaterabenden und Besuchen jenseits der Grenze. Es folgten zahlreiche berufliche Besuche zur Auswahl von Filmen der DDR, dem Leipziger Festival sowie Filmauswahl in anderen sozialistischen Ländern, vor allem der UdSSR. Es war auch die Zeit wo ich spätabends mehrere Stunden von der Volkspolizei in Drewitz festgehalten wurde, weil sie in meinem Auto ein Paket von Katalogen des Festivals von Nyon gefunden hatten und wohl meinten, ich wolle diese längs der Transitstrecke zwischen Berlin und der Bundesrepublik ausstreuen. Das war vor dem von Willy Brandt eingeleiteten Tauwetter.
Jedem seine Meinung
In dem gegenwärtigen Klima von Jubel um den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung ist es nicht einfach, einen anderen Ton anzuschlagen. Für die jüngeren Generationen ist die DDR heute nur noch ein Thema für Geschichtsbücher oder Museen und für andere der Anlass, nostalgische Nippes zu sammeln. Man hat nur allzu sehr vergessen, dass die DDR auch eine lebendige Gesellschaft war, sicher wachsam und kontrolliert, aber weit entfernt von dem düsteren Klischee das man ihr heute gern anhaftet. Für mich bleibt der Kommunismus, wie so viele andere Religionen, ein utopischer Traum der auf die schiefe Bahn geraten ist, der aber alle Möglichkeiten in sich barg, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Im Jahre 1990 entsprach die deutsche Einheit sicherlich nicht - wie wir seitdem wissen - den Wünschen der Alliierten, im Osten wie im Westen. Die Bundesrepublik profitierte von der Sklerose der Machthaber in der DDR und dem wirtschaftlichen Debakel des Landes und erlangte sie durch Einsatz von Milliarden. Man beeilte sich, Erlangtes und alle Spuren der Vergangenheit auszulöschen, auch wenn es bedeutete, Tausende von Menschen arbeitslos werden zu lassen im Namen eines siegreichen Kapitalismus und einer gewissen Auffassung von Demokratie und Freiheit. Das betraf auch das Filmwesen und seine Infrastrukturen, die oft übereilt abgewickelt wurden. Umsonst war der Vorschlag des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Walter Momper (SPD), der die Schaffung einer Föderation anregte in der beide Staaten zwar vereint waren, aber unter Beibehaltung ihrer Unterschiede. Aber die DM-Dampfwalze war zu mächtig.
Die Deer Hunter - Affäre
Selbst wenn man The Deer Hunter (Die durch die Hölle gehen) von Michael Cimino als filmisches Meisterwerk betrachtet, bleibt dieser Film ein Produkt des Kalten Krieges, wo die Vietnamesen als ein Volk blutrünstiger Rohlinge dargestellt werden. Diesen Film im Februar 1979 in Berlin zu zeigen, nachdem die chinesische Armee in Vietnam eingefallen war, nachdem eine sowjetische Delegation schon nach seiner Vorführung in Belgrad protestiert hatte, als West-Berlin voll im Wahlkampf steckte, war eine klare Provokation. Außerdem hatte mein Vorgänger, Wolf Donner, das Innenministerium in Bonn, die amerikanische Botschaft und die Botschaft der Bundesrepublik in Moskau lange vor Beginn der Filmfestspiele informiert und damit eine politische Maschine in Bewegung gesetzt, die dem Festival jegliche Entscheidungsfreiheit nahm. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Vom dritten Tag an zogen sich alle sozialistischen Länder nacheinander zurück und hinterließen eine Leere.
Ich verdanke Karl Gass viel, der als einer der ersten das Festival in Nyon besuchte und es seinen Kollegen schon 1970 empfohlen hatte, dann Ronald Trisch, dem neuen Direktor des Leipziger Dokumentarfilmfestivals, der sehr bald während meiner Beziehungen zur DDR eine wesentliche Verbindung darstellte und immer ein zuverlässiger Ratgeber war, selbst wenn der Schlüssel zu Erfolg oder Misserfolg, ob man es wollte oder nicht, eher in Moskau als in Berlin lag.
Zwischen 1969 und 1979 hatte ich dem westlichen Publikum in der Schweiz auf dem Festival von Nyon schon etwa 11 Dokumentarfilme aus der DDR und sechs Spielfilme in Locarno vorgestellt, und keineswegs unbedeutende Werke. Man kann Filme von Karl Gass, Heynowski & Scheumann nennen, sowie Winfried Junge und später Kurt Tetzlaff oder Gitta Nickel, während in Locarno Egon Günther, Lothar Warneke und vor allem Konrad Wolf aufeinander folgten. Das war der Hintergrund meiner Tätigkeit als ich nach Berlin kam und der Geist, in dem ich diese neue Herausforderung anging.
1990 besuchte ich einmal Horst Pehnert, den stellvertretenden Minister für Kultur und Leiter der Hauptverwaltung Film, in seinem Büro. Ich fand ihn, der sonst immer tadellos gekleidet war, wie es sich für einen hohen Beamten geziemte, in Hemdsärmeln und mit verzweifelter Miene vor einem riesigen Papierberg. “Es ist Schluss”, sagte er mir, “wie soll die DDR überleben, wenn der Staat unser Geld mit DM ersetzt?” Und mit ratlosem Ausdruck gestand er: “Man sagt mir jetzt, ich soll Pläne machen um alles zu privatisieren.” Es war das letzte Mal, dass ich ihm in seiner Funktion als Verantwortlichem des DDR-Filmwesens begegnet bin.
Auch wenn sich bis zum heutigen Tag meine Stasi-Unterlagen aufgelöst zu haben scheinen, vielleicht vernichtet oder versteckt sind, hatte ich als ich nach Berlin kam die Befürchtung die DDR-Behörden könnten mir nicht wohlgesonnen sein. Für das Festival von Locarno hatte ich 1973 einen Film von Horst Brandt ausgewählt, KLK an PTX - Die rote Kapelle. Die Vorführung war eine Katastrophe, denn die Filmrollen waren völlig vermischt. Es folgte ein energischer Protest des Paares Küchenmeister, graue Eminenzen und Apparatschiks der DDR und ein Bericht nach Berlin wo ich fast der Sabotage dieses großartigen filmischen Epos, das zum Glück bald in Vergessenheit geriet, bezichtigt wurde. Dann kam im Februar 1979 die Deer Hunter - Affäre. Ich war zwar schon ernannt, begann meine Tätigkeit offiziell aber erst am 1. Mai. Ich sah die Katastrophe kommen, konnte jedoch unmöglich eingreifen.
Ich war auf der Pressekonferenz der verschiedenen Delegationen machtlos, gebremst durch einen Beamten aus dem Innenministerium, der mich dringend bat, nichts zu tun. Zum Schweigen verdonnert, erhob ich mich wortlos und stellte mich zur Delegation der DDR neben Ronald Trisch als stummes Zeichen meiner Solidarität. Diese einfache Geste hat mich, glaube ich, gerettet. Um das zu verstehen muss man wissen, dass Berlin(West) damals nicht Teil der Bundesrepublik war selbst wenn sein Überleben von Bonner Subventionen abhing und die erst seit kurzem (1975) erfolgte Teilnahme der sozialistischen Länder an eine - allerdings mündliche - Vereinbarung geknüpft war, die das Festival verpflichtete, keine “anti-sowjetischen” oder “anti-sozialistischen” Filme zu programmieren und eine “humanistische Ausrichtung” zu haben. Der sowjetische Generalkonsul in Berlin hat von Anfang an nicht versäumt, mich an diese Vereinbarung zu erinnern.
Unerwartete Sonne
Die Deer-Hunter-Affäre hinterließ im darauffolgenden Jahr ihre Spuren. Das Misstrauen dem Festival und seinem neuen Leiter gegenüber war groß, sowohl in den USA als im Osten. Den einen war ich zu weit links, den anderen wenig vertrauenswürdig und für die Regisseure der Bundesrepublik war ich nicht deutsch genug. Trotzdem war es schon 1980 möglich, mit Hilfe von Konrad Wolfs Solo Sunny ein Ereignis zu schaffen. Ein Ereignis, das beinahe schlecht ausgegangen wäre, hätte nicht Konrad Wolf sein Prestige und einen Diplomatenpass in der Tasche gehabt. Damals übernahm der SFB die Herstellung der Filmausschnitte für die verschiedenen Fernsehanstalten und es geschah dann, dass eine Rolle von Solo Sunny kurz vor der offiziellen Vorführung unbrauchbar beschädigt wurde. Konrad Wolf eilte auf die andere Seite der Mauer, nahm kurzerhand eine entsprechende Rolle aus der Vorführkabine eines Kinos in Ost-Berlin und brachte sie nach West-Berlin, gerade noch rechtzeitig zur Premiere seines Films auf den Filmfestspielen.
Die Jury unter dem Vorsitz von Ingrid Thulin verlieh den Preis für die beste Schauspielerin an Renate Krössner, die mich 20 Jahre später, im Jahr 1999, auf der Bühne des Zoo-Palastes überraschte und mir zusammen mit Michael Ballhaus zu meinem 20. Festival einen “Jubiläums”-Bären überreichte.
Solo Sunny setzte die Latte sehr hoch an und wir gaben uns der Illusion hin, jedes Jahr in der DDR einen Film dieses Niveaus entdecken zu können. Das Ministerium war sich zwar der Bedeutung der Teilnahme an den Filmfestspielen bewusst, war aber wie andere Länder auch nicht immer in der Lage, unsere Hoffnungen zu erfüllen. 1981 war für uns ein schwarzes Jahr. Jedes Jahr fuhr ich mit meinen Kollegen von der Auswahlkommission für einen Tag zu Filmvorführungen, die der DEFA-Außenhandel organisierte. In jenem Jahr hatten wir nichts Überzeugendes gefunden und beschlossen deshalb, keinen Film in den Wettbewerb einzuladen. Wir zeigten damit ebenfalls die Unabhängigkeit des Festivals bei der Filmauswahl, auch wenn dann einer unserer Berliner Beamten mir vorwarf, “nichts von den Beziehungen beider Teile Deutschlands (zu) verstehen”. Die DDR zeigte sich brüskiert und verzichtete sogar darauf, am Kinderfilmfest teilzunehmen. Die anderen sozialistischen Länder schlossen sich nicht an und schickten nach wie vor wichtige Filme. Die sozialistische Solidarität hatte ihre Grenzen
Die DDR auf den Int. Filmfestspielen Berlin
Blick von den Festivalbüros in der Budapester Strasse auf den Zoo-Palast und die Aeroflot-Niederlassung